Freitag, 4. Dezember 2015

Ein Wochenende in Instanbul nach Freitag, dem 13. November 2015




Notizen zum Freitag, den 13. November 2015

Plötzlich war er da. Er hat uns alle erwischt. Der Terror. Mich genau dort, wo ich mich sicher gefühlt habe, geborgen und fernab des ganzen Wahnsinns – nämlich im zuverlässigen Hier und Jetzt. Aber er war da. Natürlich war er da. Der Wahnsinn. In einigen meiner Lebensbereiche begegne ich ihm regelmäßig. Bis jetzt war er jedoch das, was anderen Menschen zugestoßen ist. Etwas, wovor andere geflohen sind. Nicht ich, sondern die Menschen, derer Leben er zerstört hat. Die Menschen, die genau das bei uns suchen, was ich gerade zu verlieren glaube. Den Glauben und die Zuversicht auf ein gutes Morgen. Ein Morgen, häufig so ereignisreich und manchmal auch so überschaubar, planbar und gewöhnlich. Dennoch ein Morgen in geglaubter Zuversicht, dass egal was wird, es schon gut werden wird.


Und nun ist sie da, die Angst. Die Angst und der Zweifel: Was wird morgen sein? 


Ich hasse diese Angst zutiefst, denn für mich ist das Leben da, um gelebt zu werden. Da bleibt wenig Raum für Angst. Angst hindert mich am Leben im Hier und Jetzt. Sie nimmt mir die Kraft, die Dinge so anzupacken, wie ich es gewohnt bin; sie lässt mich Fragen stellen, die ich nicht hören möchte. Es sind dumme Fragen. Es sind schwache Fragen. Angst raubt mir den Lebensmut, lässt mich an meinen Überzeugungen zweifeln, die ich bis jetzt für richtig und wichtig gehalten habe.  Sie entreißt mir die Freiheit, der ich in meinem Leben stets den größten Raum eingeräumt habe. 


Und ich brauche diese Freiheit. Ich habe sie schon immer gebraucht. Mit jedem Tag, den ich gelebt habe, habe ich sie mir nicht nehmen lassen. Die Freiheit, zu tun, zu glauben, zu denken und zu äußern was auch immer ich wollte. Das ist genau das, was ich unter einem selbstbestimmten Leben verstehe – und verdammt noch mal, ich will verflucht sein, wenn ich mir das nehmen lasse!!! Wenn ich mir MEINE Freiheit nehmen lasse!!! Nicht von Menschen, die ich liebe, nicht von Menschen, die ich mag und erst recht nicht von jenen, denen ich scheißegal bin!


Und da ist er wieder, der Zorn. Ein machtvoller Gegner der Angst. Er steht da und knurrt. Fixiert sie, diese Angst, läuft auf und ab und lässt sie nicht aus den Augen. Er hält sie in Schach. Setzt zum Sprung an, denn er wird nicht weichen. Seine Überzeugungen sind stärker, sie wiegen mehr als all die Zweifel und die Ängste. Er ist laut, er brüllt und ... er erweckt den Mut. 


Den Mut, den ersten Schritt nach vorn zu tun, dann den zweiten und den nächsten. Er lässt mich weitergehen, um dann doch innezuhalten. Er gibt mir Zeit, mich umzuschauen. Er lässt mich zum ersten Mal trauern über das, was mir die Angst genommen, was mir der Wahnsinn gewaltvoll entrissen hat. Er lässt mich verstehen, was ich verloren habe und gibt mir die Kraft, es mir wieder zurückzuholen. Erst in kleinen Mengen und dann in ganz großen: Das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit, Gleichheit und Menschlichkeit. Er gibt mir wieder die Zuversicht auf ein gutes Morgen.
Ich, am 16. November 2015










Drei Tage später … 

Unser Flug nach Istanbul steht an. Auch wenn ich den Mut wiedergefunden habe, schaue ich im Atlas nach, wo genau sich die syrische Grenze befindet – einer jener Orte, wo Terror, Krieg und Hass bereits so viel zerstört haben. Wie weit ist all das von Istanbul entfernt? Bringe ich meine Familie dem Ganzen zu nahe? Handle ich noch verantwortungsvoll? Plötzlich scheint die Welt wieder so extrem klein zu sein. Beim Gespräch mit meinem Mann äußere ich meine Bedenken. „Müssen wir unbedingt JETZT dahin fliegen? Können wir den Termin nicht verschieben?“ Er mustert mich: „Möchtest du lieber hier bleiben?“ Ich weiß, dass er sonst ohne uns fliegt. Er muss einen wichtigen Termin wahrnehmen. „Nein! Trotzdem mache ich mir Gedanken“. Er versucht mir die Angst zu nehmen: „Weißt du eigentlich, wie weit der ganze Horror von Istanbul entfernt ist?“ „Ja, weiß ich! Weißt du eigentlich, wie weit Paris davon entfernt war?“ Er atmet tief durch und schweigt. Es macht keinen Sinn, Gedanken darüber zu verlieren. Was können diese schon ausrichten? Es sind bloß Gedanken, ... Möglichkeiten, so berechtigt oder unberechtigt sie auch sein mögen, sie behindern mich, machen mich handlungsunfähig. Sie verhindern, dass ich mich frei fühle, dass ich mich mutig fühle, die Schritte zu gehen, die ich gern gehen möchte. Deshalb gibt es für mich kein Entweder-Oder. Wir fliegen.














Istanbul am Freitag, den 20. November 2015

Wir sind da. Mit + 20 Grad Außentemperatur ist es angenehm warm - genauso, wie ich es mag – und … es ist voll. Berlin ist ein Dorf verglichen mit dieser Stadt. Istanbul quillt über mit freundlichen, fröhlichen und beschäftigten Menschen. Fast 15 Millionen an der Zahl! Es ist angefüllt mit fremden Gerüchen, einer frischen Bosporusbriese, und sehr gutem Essen. Unsere Abenteuerlust ist geweckt, unsere Neugierde gigantisch und unsere Laune blendend. In dieser Stadt mit all den Menschen fühle ich mich wie in einem riesigen Ameisenhaufen. Alles wuselt um mich herum, jeder hat eine Aufgabe zu erfüllen. Wir werden zu einem Teil des „Großen Ganzen“. Nirgendswo fühlt man dieses Verschmelzen mit einem Ort mehr  als hier, in dieser großen pulsierenden Stadt. 

Wir sind ständig im Gespräch mit wildfremden Menschen. Oftmals müssen wir nach dem Weg fragen. Wir wissen, was wir sehen wollen, nicht aber, wie wir dorthin gelangen können. Die Strassenkarte von meinem Shoppingguide, den ich mir als einzige halbwegs brauchbare City-Karte vom Hotel mitgenommen habe, ist sehr ungenau … und die Läden drauf wollen wir nicht anlaufen. Als grobe Orientierung reicht’s. Aber das ist leider auch alles. Wo bekomme ich hier bloß einen Stadtplan? Wir nehmen ein Taxi und lassen uns zu Hagia Sophia fahren. Der Weg scheint unendlich weit weg von unserem Hotel zu sein. Vom Fenster aus bekommen wir den ersten Eindruck von dieser Stadt. Permanent geht es rauf und runter. Istanbul ist eine Stadt auf Bergen. Wie steil es heraufgehen kann, kriegen wir erst später mit.











Mittlerweile erkunden wir seit einigen Stunden die Sehenswürdigkeiten Istanbuls, als uns plötzlich eine kleine Gruppe von Leuten nach dem Weg fragt. Im Vergleich zu uns haben sie eine Straßenkarte. „Excuse me. May do you know, how we …" Als mir klar wird, was der Mann von mir will, antworte ich: „Oh no, sorry. We also don't have any clue, where we are …” Wir lachen, als ich weiter fortsetze: “ … and I guess, we’ll get completely lost in a few minutes!” Wir lachen noch mehr. “We are just tourists!”. Die Stimmung ist ziemlich ausgelassen, als unseren Gegenüber der Schalk im Nacken packt: “Are you tourists or terrorists?” Diese spontane Frage und der ähnliche Gleichklang der Wörter bringt uns alle erschreckenderweise noch mehr zum Lachen. „No, not today.  We need a break!“ entschlüpft es mir spontan, als sich die Leute vor Lachen schütteln. 

Humor? Bei diesem Thema? Ja. Irgendwie ist Humor der beste Therapeut, wenn es um die Bewältigung von Angst und negativen Gefühlen geht. Er hat eine ausgesprochen positive Wirkung, wenn es darum geht, Bedrohungen oder Ereignisse zu überwinden, weil sie so unerträglich sind und es für sie einfach keine weiteren Worte gibt. Meine Familie hat mir diesen Trick in anderen Lebenssituationen einmal beigebracht und ich beherzige ihn so wie es aussieht unbewusst immer dann, wenn es drauf ankommt. Unserem Gegenüber ging es offensichtlich ähnlich. 














Wir wandern durch Istanbul den ganzen Tag. Hagia Sophia, die blaue Moschee, der Große Basar, der Gewürzmarkt, ein Flohmarkt und ein alter Büchermarkt standen an der Tagesordnung. Auch ein Besuch des Taksimplatzes und der von ihm abgehenden, bunten Straßen, der Galataturm, Spaziergänge am Bosporus, die Ortaköy Moschee an der Bosporusbrücke, die einen symbolischen Charakter hat und Europa mit Asien verbindet und die abenteuerliche Galatabrücke mit all den Fischern, dem Fisch und den rutschigen Böden. Zwischenstationen beim Maronimann und der frisch zubereitete Mais der diversen Maisverkäufer gehörten ebenfalls zum Pflichtprogram. 

Nach einigen aufregenden Stunden bekomme ich immer mehr ein Gefühl für die Stadt und ihre Straßen. Mein Orientierungssinn funktioniert und ich finde mich immer besser zurecht. Ich gehe vollständig im Hier und Jetzt auf. Es geht gar nicht anders. Ich muss konzentriert sein und trotzdem werde ich fortlaufend abgelenkt durch das neue Abenteuer, die Läden und ihre Händler, den Kitsch, die Pracht, den Trubel, die gutgelaunten Kids an meiner Seite und den unglaublich starken Puls dieser Metropole. 

Es ist mittlerweile 19:00 Uhr. Die Dunkelheit ist hereingebrochen und die Straßen der Stadt gleichen Blechlawinen. Überall blinkt es. Überall hupt es. Hupen ist hier ein Nationalsport. Wir werden langsam müde. Ich strecke einen Arm aus und winke uns ein Taxi heran. Für heute reicht es. Unsere Füße brennen, und mein Rücken kann eine Pause gut gebrauchen. Endlich kann ich meine schwere Tasche abladen. Wie können ein paar Tees und Gewürze, 3 kleine bunte Teller, ein neuer Stadtplan und zwei kleine Bücher nebst einer kleinen Wasserflasche bloß so viel wiegen?










Aus dem Taxi zieht die Welt deutlich langsamer an uns vorbei, als wenn wir zu Fuß unterwegs wären. Die Frau und ihren Pudel haben wir schon dreimal überholt … und dennoch taucht sie ständig auf. Ein klares Zeichen dafür, dass sich der Wagen im Schneckentempo seinen Weg durch das Verkehrschaos bahnt. 

Meine Kids checken neben mir ihre whatsapp-Nachrichten, während ich die Zeit nutze, um die Arbeit eines hiesigen Taxifahrers besser zu verstehen. Er spricht kein Englisch, auch kann er die Adresse unseres Hotels nicht lesen, weil er seine Lesebrille nicht dabei hat. Ich versuche mich im Türkischlesen und irgendwie klappt es. Er ahnt wenigstens die Richtung, in die es gehen soll. Mit meiner neuen anthropologischen Beobachtungsstudie bin ich mittlerweile ganz gut vorangekommen. Ich weiß meistens jetzt wann in Istanbul gehupt werden darf: 


  1.  Los! Fahr weiter!
  2. Warum stehst du noch? Hast du mein erstes Hupen nicht gehört!?
  3. Hey Kumpel! Schön, dich wiederzusehen! Wie geht’s?
  4.  Aufwachen! Du fährst auf zwei Spuren! Nicht schlafen!
  5. Ich biege jetzt nach rechts/links ab!
  6. Ich bin immer noch in der Kurve! Hörst du mich?
  7. Achtung: Ich fahre los! 
  8. Achtung: Ich halte an!
  9. Vollbremsung. Hey du Ar …! Du hast mir gerade die Vorfahrt genommen! (Wird begleitet mit vielen Worten und Gestikulation, die ich nicht verstehe. Vielleicht hieß es aber auch: Ich hab da hinten 3 Touristen, die nicht wissen, wo sie wohnen! hahaha … Ich weiß es nicht :))) .
  10. Tschüss! 













Als wir am Abend im Hotel ankamen, fielen wir fröhlich, glücklich, voller Eindrücke und neuer Erkenntnisse ins Bett. Ein perfekter Tag war zu Ende. Morgen würde die Rückreise anstehen. … Was wäre uns entgangen, wenn wir vor lauter Angst zu Hause geblieben wären? Wir müssen uns unseren Ängsten stellen. Egal wie groß oder klein sie sind. Ob nun realistisch oder bloß nur in unseren Köpfen. Angst besiegt man durch’s Handeln. Bitte habt keine Angst. Handelt. ... Handelt gut und handelt weise.






2 Kommentare:

  1. Liebe Mariola,


    ich liebe Dich für jedes einzelne Wort! Immer wieder schön mit dir befreundet sein zu dürfen.

    xxx

    Karin

    AntwortenLöschen
  2. Oooh, Du Schatz! Dankeschön ...
    xoxo
    Mariola

    AntwortenLöschen